«Lesen ist so wichtig wie noch nie»

    Bibliomedia Schweiz, die «Bibliothek für Bibliotheken», feierte im Mai 2020 ihr Jubiläum: Stolze 100 Jahre setzt sich die Stiftung bereits für die Leseförderung und die Entwicklung der Bibliotheken ein. Heute engagiert sich die ehemalige Soldatenbibliothek dafür, dass jede und jeder Zugang zu Büchern haben. Ausserdem unterstützt sie Bibliotheken bei der Integration fremdsprachiger Bevölkerungsgruppen. Der rasante Anstieg digitaler Ausleihen in Zeiten der COVID-19 Pandemie bestätigt, dass das Buch noch lange kein Medium von Gestern ist. Franziska Baetcke, Direktorin Stiftung Bibliomedia Schweiz, gibt einen Überblick über die vielfältige Tätigkeit der Stiftung.

    (Bilder: zVg) Franziska Baetcke, Direktorin Stiftung Bibliomedia Schweiz: «Ohne Lesekompetenz ist der Mensch in der Informationsgesellschaft verloren.»

    Die Stiftung Bibliomedia wurde 1920 gegründet. Was sind die wichtigsten Meilensteine in der Geschichte dieser wichtigen Institution?
    Franziska Baeteck: Die Stiftung Bibliomedia wurde 1920 als Schweizerische Volksbibliothek gegründet. Ihr Grundstock waren die 30’000 Bücher, die nach Ende des Ersten Weltkriegs aus der Soldatenbibliothek übriggeblieben waren. Ausgehend davon wurde der Medienbestand ausgebaut, so dass damit die Interessen von immer mehr Menschen bedient werden konnten. Bibliomedia war von Anfang an mehrsprachig. Zuerst waren es die Landessprachen Deutsch, Französisch und Italienisch, in den 1940er Jahren kamen Englisch und Spanisch dazu. Je mehr die Schweiz ein Einwanderungsland wurde, umso vielsprachiger wurde Bibliomedia. Heute führt die Stiftung umfassende Buchbestände auch auf Albanisch, Arabisch, Kroatisch, Portugiesisch, Serbisch, Tamilisch und Türkisch.

    Wie haben sich die Aufgaben der Stiftung in den vergangenen 100 Jahren gewandelt?
    Bibliomedia ist die Bibliothek der Bibliotheken. Zunächst sollte Bibliomedia mit ihren Büchern die Berufsbildung unterstützen und richtete sich an ein eher männliches Publikum. Frauen wurden dann relativ rasch als lesefreudige Zielgruppe entdeckt und beliefert. Danach kamen die Jugendlichen und Kinder dazu – heute eine der zentralen Zielgruppen von Bibliomedia.

    Leseförderung ist eine zentrale Aufgabe der Stiftung. Wie und mit welchen Mitteln wird diese umgesetzt?
    Bibliomedia versorgt Bibliotheken und Schulen mit den Medien, die sie brauchen, um ihrem Auftrag nachkommen zu können. Wir stellen Bücher für Leser*innen aller Altersstufen und aller Niveaus zur Verfügung. Wir haben grosse fremdsprachige Bestände aufgebaut, damit auch Menschen mit Migrationshintergrund in Öffentlichen Bibliotheken Lektüre in ihrer Muttersprache finden. Daneben führen wir Literatur in einfacher Sprache, damit auch Menschen, denen das Lesen schwerfällt, geeignete Einstiegslektüren finden. Unsere Bestände sind ergänzend zu den Medien gedacht, die Bibliotheken und Schulen selbst anschaffen. Wir stellen sie leihweise in grossen Kontingenten zur Verfügung – das ist praktisch, erschwinglich, nachhaltig und wird von Bibliotheken und Schulen geschätzt, wie die Ausleihzahlen belegen.

    Wieso ist Leseförderung auch im digitalen Zeitalter so bedeutend?
    Lesen ist für uns heute im Alltag so wichtig wie noch nie. Ohne Lesekompetenz ist der Mensch in der Informationsgesellschaft verloren. Nur wer lesen kann, kann ein selbstbestimmtes Leben führen und sich persönlich und beruflich weiterentwickeln. Zahlen aus dem Jahr 2011 sprechen davon, dass in der Schweiz 800’000 Menschen im Alter von 16 bis 65 Jahren über ungenügende Lesekompetenzen verfügen. Das heisst, es macht ihnen Mühe, einen Text zu lesen und zu verstehen. Diese Menschen sind in die Schule gegangen – aber sie sind für das Leben in einer Informationsgesellschaft nicht ausreichend gerüstet und können sich im Alltag oft nicht gut genug orientieren.

    Wie hat Bibliomedia am 6. Mai den 100. Geburtstag gefeiert?
    Bibliomedia hat eine spannende Geschichte – und die erzählen wir auf www.bibliomedia.ch in 26 kurzen Filmclips. Unser Logo ist das Alphabet – also erzählen wir unsere Geschichte als Alphabet, mit einer Episode für jeden Buchstaben. Für den Mai hatten wir ein schönes Fest für Kund*innen und Stakeholder geplant, das wir nun auf 2021 verschoben haben. Das war aufgrund der Covid-19-Pandemie nicht anders möglich. So feiern wir halt 2021 den 101. Geburtstag.

    Bibliotheken sind vielerorts zu Treffpunkten geworden, an denen sich Menschen austauschen und vernetzen.

    Was bedeutet Lesen in der heutigen Zeit?
    Das Lesen von Büchern hat vor allem in der Freizeit massive Konkurrenz durch die Omnipräsenz von Bildschirmen erhalten, aber Fakt ist, dass wir alle heute so viel lesen und schreiben wie noch nie.

    Das Lesen am Bildschirm ist aber oft eher ein Scannen der Texte nach bestimmten Informationen. Das heisst, wir lesen weniger vertieft, wir lassen uns weniger auf Sprache ein und lassen uns weniger von Sprache berühren. Einen Roman zu lesen und mit den Hauptfiguren mitzufiebern, ist eine ganz andere Leseerfahrung als durch Websites zu surfen – Lesen können muss man für beides.

    Welchen Stellenwert haben Bibliotheken heute?
    Bibliotheken haben sich in den letzten Jahren stark gewandelt. Sie sind vielerorts zu Treffpunkten geworden, an denen sich Menschen austauschen und vernetzen, wo Veranstaltungen stattfinden und gemeinsam etwas unternommen wird. Bibliotheken sind heute Orte des Wissens und des Machens. Natürlich werden in Bibliotheken immer noch Bücher ausgeliehen, aber zur Medienausleihe sind viele andere Dienstleistungen dazugekommen.

    Die digitale Buchausleihe ist dank Corona beliebter denn je. Hat die traditionelle Bibliothek bald ausgedient?
    Bibliotheken passen sich den Bedürfnissen ihrer Benutzer*innen an und entwickeln Dienstleistungen im Austausch mit den Gemeinschaften – deshalb sind sie auch in einer zunehmend digitalisierten Welt von Bedeutung. Die E-Book-Ausleihe ist nur eines von vielen Angeboten, das Bibliotheken heute machen – wenn auch während der Covid-19-Pandemie natürlich ein besonders erfolgreiches.

    Unsere E-Book-Plattform «e-bibliomedia» mit Literatur auf Französisch und Englisch hat in den Corona-Wochen einen einmaligen Anstieg verzeichnet. Weil die Bibliotheken mehrheitlich geschlossen waren, sind die Leser*innen auf digitale Angebote umgestiegen. Grundsätzlich gilt jedoch, dass E-Book-Leser*innen auch Bücher lesen. Das E-Book ist praktisch, vor allem für die Ferien und für unterwegs, aber nur wenige lassen das Buch deshalb ganz hinter sich.

    Hat Covid-19 noch andere Auswirkungen auf die Bibliothek, den Stellenwert des Lesens etc?
    Der Lockdown hat gezeigt, dass Bibliotheken für ihre Nutzer*innen relevant sind. Viele Bibliotheken haben ja Heimlieferservices aufgebaut oder ein Abholsystem in der geschlossenen Bibliothek eingerichtet, damit niemand auf Lesestoff verzichten musste. Die Bibliotheken in der Schweiz konnten zeigen, wie kreativ sie sind, wie dynamisch und erfindungsreich. Das war eine Chance für die Bibliotheken, die zum Teil immer noch – die meisten zu Unrecht – mit einem verstaubten Image behaftet sind.

    Ebenso sind E-Book und digitale Medien sehr im Trend. Was bedeutet dies für das Buch?
    Gerade weil wir heute im Berufsleben von Bildschirmen umzingelt sind, ist das Buch für viele Leser*innen auch als Objekt unersetzlich. Das Buch hat ein Gewicht, eine Form, sogar einen Geruch. Viele Menschen mögen das. Ich denke, das Buch hat gute Überlebenschancen.

    Bibliotheken übernehmen auch eine wichtige Rolle als interkultureller Begegnungsort. Wie zeigt sich dies und was bedeutet dies für unsere Gesellschaft?
    Bibliotheken sind öffentliche Orte, die wirklich allen Menschen offenstehen. Umso besser, wenn sich auch Menschen mit anderer Muttersprache in der Bibliothek wohl fühlen, vor Ort Literatur finden und sich vernetzen können.

    In vielen Bibliotheken finden heute Leseanimationen für Kleinkinder und Familien in verschiedenen Sprachen statt – das ist eine tolle Sache!

    Was wünschen Sie sich für die nächsten 100 Jahre für die Stiftung Bibliomedia?
    Ich wünsche mir anspruchsvolle Partner*innen in den Schulen und Bibliotheken, die uns helfen, mit unseren Angeboten und Dienstleistungen stets am Ball zu bleiben. Ich wünsche mir neugierige Leser*innen, die uns immer wieder auf neue Ideen bringen. Und ich wünsche mir ein politisches Umfeld, das den Zugang für alle Menschen zu Kultur und Bildung ganz weit oben auf die Prioritätenliste setzt.

    Interview: Corinne Remund


    Bibliomedia Schweiz

    Die Stiftung Bibliomedia engagiert sich seit hundert Jahren für das Lesen und unterstützt Schulen und Bibliotheken bei ihrer Arbeit. Bibliomedia wird auch die «Bibliothek der Bibliotheken» genannt und stellt Lehrpersonen Klassenlektüren und Medienkollektionen für den Unterricht zur Verfügung. Die Stiftung ist national tätig, mit Standorten in Biasca, Lausanne und Solothurn.

    Mehr Infos:
    www.bibliomedia.ch

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